Instrument der ZivilisationGepostet am: 17.07.2020

In der aktuellen Weltwoche ist zu lesen, wie sich dank der Wiedereinführung des Waffentragrechts für Bürgerinnen und Bürger Leben retten liessen. Wir danken der Weltwoche und dem Autor Lukas Joos für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Artikels, den wir nachfolgend ungekürzt wiedergeben.

Instrument der Zivilisation

In der Schweiz ist das Waffentragen seit drei Jahrzehnten verboten. Grundlage dafür ist ein falsches Menschenbild. Es mag überraschen, aber wo die Bürger sich bewaffnen dürfen, gibt es weniger Gewalt.

Anfang Juli entwich im Kanton Zürich ein Sexualstraftäter, der im Wald Joggerinnen angefallen hatte, aus einer geschlossenen Einrichtung. Ein mit den Strafurteilen bekannter forensischer Psychiater charakterisierte den Flüchtigen wie folgt: «Das gezielte und rücksichtslose Tatverhalten widerspiegelt den Angriff eines Raubtiers auf eine nichtsahnende Beute, wofür unsere amerikanischen Fachkollegen den treffenden Ausdruck des sexual predator haben. Das Opfer wird zum reinen Nutzobjekt herabgewürdigt; es hat nur der Begierde des Täters zu dienen und wird danach in seinem Elend zurückgelassen.»

Die allermeisten Menschen dürften gegenüber diesen Opfern überwältigendes Mitgefühl und ein hilfloses Bedürfnis empfinden, alles dafür zu tun, die erlittene Misshandlung ungeschehen zu machen. Doch für eine deutliche Mehrheit von Politik und Gesellschaft ist derzeit klar: Das Gesetz muss Joggerinnen daran hindern, eine Pistole auf sich zu tragen. Die Wiedereinführung des Rechtes auf Waffentragen steht bei keiner relevanten Partei oder Organisation auf dem Programm.

Abgeschafft wurde dieses Recht in der Schweiz erst vor gut zwanzig Jahren. Bis Ende der neunziger Jahre konnte man Handfeuerwaffen in allen Kantonen und Faustfeuerwaffen in der Mehrheit der Kantone (unter ihnen der urbanste, Basel-Stadt) frei tragen. 1997, bei der Ausarbeitung des ersten eidgenössischen Waffengesetzes, stimmte das Parlament jedoch – nach zähen Debatten – dem sogenannten Bedürfnisnachweis für Waffentragbewilligungen zu, einem De-facto-Tragverbot. Der Entscheid war vergleichsweise knapp, den Ausschlag gaben Teile der CVP und der Liberatlen Partei. Fünf Jahre zuvor, als die für ein nationales Waffengesetz nötige Verfassungsgrundlage geschaffen wurde, hatte im bürgerlichen Lager noch Einigkeit geherrscht, dass eine solche Klausel für Schweizerinnen und Schweizer nicht in Frage komme.

Klausel des Widersinns

Sicherheitspolitische hard evidence für die Notwendigkeit eines Tragverbots gab es nicht. Im Parlament gaben dessen Befürworter offen zu, über keine Statistiken zu verfügen, die den kriminalitätsdämpfenden Effekt einer Bedürfnisklausel belegten. Nicht einmal eine Liste illustrierender Missbrauchsfälle konnten sie in Anschlag bringen. Ihre Argumentation basierte wesentlich auf schwarzmalerischen Szenarien einer Zukunft der Waffenträger. Diese Szenarien waren zum Teil durchaus originell: Arnold Koller zum Beispiel imaginierte eine Personenkontrolle am Letten mit tragberechtigten Junkies und Dealern (worauf ihm ein Zürcher Parlamentarier erklärte, seine «Story» ergebe nur schon deshalb keinen Sinn, weil die dortige Drogenszene längst geschlossen sei). Doch sie litten alle am grundsätzlichen Mangel, dass sie im direkten Widerspruch zum unproblematischen waffengesetzlichen Status quo ohne nachweisbares Schusswaffenproblem standen. In der Vernehmlassung hatte sich sogar der Verband Schweizerischer Polizei-Beamter gegen das faktische Waffenverbot ausgesprochen.

Noch leichtgewichtiger als die damaligen Argumente gegen das Waffentragen sind die heutigen. Ich spreche vor dem Hintergrund zahlreicher Diskussionen mit Politikern wie Nichtpolitikern verschiedenster politischer Ausrichtungen. Wer das Tragverbot in Frage stellt, stösst in aller Regel zuerst auf viel Emotion – und dann auf nicht mehr als vier, fünf Standardphrasen mit schweren Stichhaltigkeitsproblemen.

Begonnen wird meist mit der Behauptung, für den Schutz vor Verbrechen sei die Polizei da. Auf die Erklärung, dass die Polizei bloss durch Zufall rechtzeitig vor Ort sein könne, weil die allermeisten Gewaltstraftaten keine dreissig Sekunden dauern und Sexualverbrechen nicht vor unbeteiligten Drittpersonen stattfinden, folgt üblicherweise ein unbeirrtes «Es ist trotzdem die Aufgabe der Polizei». Erläutert man dann, dass in diesem Fall jedes Gewaltdelikt Beweis für die Nichterfüllung einer polizeilichen Amtspflicht wäre, wird meist gekontert, der Staat müsse das Gewaltmonopol innehaben und es dürfe keine Selbstjustiz geben. Was aber hat die bewaffnete Ausübung des Notwehrrechtes mit Anarchie und eigenmächtiger Vergeltung zu tun? Die Antwort ist in der Regel die Flucht nach vorne: Eine Waffe nütze einem im Ernstfall sowieso nichts. Will man hierauf wissen, ob denn das erfolgreiche Absolvieren der sogenannten Polizeitests zum Tragen berechtigen sollte, wird die Diskussion nur allzu oft – ich spreche wirklich aus Erfahrung – mit dem mehr oder weniger ärgerlichen Ausruf beendet, man müsse ja nur in die USA schauen. Allerdings sticht auch dieses Argument nicht.

Wie auch immer geartete amerikanische Zustände sind kein Grund zur Annahme, hierzulande würde die Streichung der Bedürfnisklausel etwas anderes als die Rückkehr zum problemlosen Status quo ante bewirken.

Die menschliche Natur

Fakten sind Fakten. Polizisten hechten nicht zwischen Tätermesser und Opferleber, und sie zerren keine Sexualverbrecher von überwältigten Frauen. Zwischen 1848 und 1997 herrschten weder Blutvergiessen noch Wildwestchaos in der Schweiz – im Gegenteil. Woher also kommt die plötzliche bürgerliche Feindschaft gegen das Waffentragen? Unterstellt man nicht einfach allgemeine Dummheit und Kaltherzigkeit, muss man von tieferliegenden Gründen ausgehen: von Prämissen über die Ursachen von Kriminalität, die notwendigerweise zum Schluss führen, das Tragrecht sei ein Katalysator für Gewalt.

Der erste Absatz von James Q. Wilsons 1975 erschienenem, heute noch einschlägigem Buch «Thinking About Crime» enthält die Feststellung, dass die Tauglichkeit jeglicher Staatstätigkeit gegen Kriminalität in besonderer Weise von einem korrekten Verständnis der menschlichen Natur abhängt. Das heisst: Annahmen über deren Beschaffenheit und Veränderbarkeit bestimmen die Sicht darauf, wie das Verbrechen entsteht und wie es bekämpft werden kann. Und genau in dieser Hinsicht, in den Annahmen zur Natur des Verbrechers, hat sich in der bürgerlichen Schweiz ein Wandel vollzogen.

Bürgerliche (Sicherheits-)Politik basierte lange auf einer «Grundsicht» der menschlichen Natur, die «constrained» oder «tragisch» genannt wird. Diese Sicht kommt bereits im Sündenfall, also im dritten Kapitel der Genesis, zum Ausdruck. Später prägte sie das Denken einer langen Linie liberaler und angelsächsisch-konservativer Intellektueller, die von John Locke über Adam Smith bis zu Friedrich Hayek reicht. Ihre zentralen Axiome in Bezug auf Verbrechen und Krieg sind die folgenden:

1 - Das Böse ist genauso Teil der menschlichen Natur wie das Gute: Krieg und Verbrechen sind unüberwindbare Teile der Realität.

2 - Der menschliche Wille ist frei: Schuld am Bösen ist, wer es verübt.

3 - Die menschliche Natur ist konstant: Misslingt die moralische «Grundkonditionierung» im Kindesalter, ist lebenslange Asozialität die Folge.

Gemäss dieser Sicht können Aggressoren – egal, ob Vergewaltiger, Terroristen oder Diktatoren – nur mit einer Strategie in Schach gehalten werden, die auf die Beeinflussung ihres Verhaltens abzielt. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in Dissuasion und Gegengewalt. Ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht bereit und fähig zu beidem, haben Frieden und civilité keinen Bestand. Jede zur Eindämmung der Aggression notwendige Gewaltandrohung und -anwendung ist moralisch zu begrüssen, falsche Humanität hingegen nicht. Weil der Täter den Entschluss zur Aggression erstens frei und zweitens aus eigensüchtigen Motiven trifft, gilt nach dem Moralphilosophen Adam Smith: «Mitleid mit den Schuldigen ist Grausamkeit gegenüber den Unschuldigen.»

Eine zweite, ganz andere Grundsicht der menschlichen Natur bildet seit zwei Jahrhunderten die Grundlage sogenannt progressiver Politik. Diese «unconstrained» oder «utopisch» genannte Sicht widerspiegelte sich im ausgeprägt «machbarkeitsorientierten» Denken von Philosophen wie Rousseau, Nicolas de Condorcet und William Godwin und färbte auch die marxistische Theorie. Ihre Grundannahmen in Bezug auf Verbrechen und Krieg lauten:

1 - Das Böse ist nicht Teil der menschlichen Natur, sondern Folge ihrer Korruption: Krieg und Verbrechen sind widernatürliche, vermeidbare Anomalien.

2 - Der menschliche Wille ist gegenüber äusseren Umständen ein «Underdog»: Schuld am Bösen ist in erster Linie das Umfeld des Täters.

3 - Die menschliche Natur ist formbar. Aggressoren lassen sich resozialisieren.

Gemäss diesen Grundsätzen wird Gewalt durch die Ausmerzung ihrer – äusseren – Ursachen verhindert. Krieg ist das Resultat von Missverständnissen, «Provokationsspiralen» und Verzweiflung über «unmenschliche Lebensumstände»; überwunden wird er mit Pazifismus, Dialogbereitschaft und Entwicklungshilfe. Gegen Verbrechen helfen Gewaltlosigkeit, soziale Gerechtigkeit und ein Strafvollzug mit Therapiefokus. Die Androhung oder Ausübung von Gewalt hingegen bedeutet unter diesen «utopischen» Voraussetzungen nicht nur zwangsläufige Eskalation, sondern ist auch moralisch immer fragwürdig. Weil an den Taten der Aggressoren eigentlich die Gesellschaft Schuld trägt, «widerspiegeln» Verbrecher bloss Unrecht: Dementsprechend kann aus der Anwendung von Zwangsmitteln gegen sie keine Tugend gemacht werden. ››› Bis Ende der achtziger Jahre war die bürgerliche Sicht auf das Verbrechen ähnlich «tragisch» wie jene auf den Krieg. Bundesrat Arnold Koller, der wenig später zum erbitterten Tragrechtsgegner mutierte, stellte noch 1993 fest: «Das Recht auf freies Waffentragen ist eigentlich nur das Korrelat zur Wehrpflicht.» Der Schutz von Leben, Leib und Besitz war noch Männerdomäne, aber er funktionierte gegen innen gleich wie gegen aussen.

Füsilier Gewaltfrei

Dann aber, ab den frühen Neunzigern, vollzog sich in der Mehrheitsgesellschaft eine grundlegende Sichtverschiebung in Bezug auf Verbrechen und Gewalt. Unter anderem mit der Verwahrungsinitiative wurde zwar gefordert, im Strafvollzug zu einem tragischeren Menschenbild zurückzukehren. Doch gleichzeitig setzten sich innert Kürze Verhaltensnormen und Werte durch, die nur von einem ausgesprochen utopischen Standpunkt aus Sinn ergeben.

Zum einen ist – als ob es nur in den Herzen ausländischer Soldaten Böses gäbe – die absolute Gewaltlosigkeit zur unhinterfragten gesellschaftlichen Maxime geworden. Galt auf den Pausenplätzen der Achtzigerjahre noch die Regel, dass «fertig ist», wenn einer auf dem Boden liegt, heisst in die Schule gehen schon längst, Gewaltfreiheit zu lernen. Ein Unterschied zwischen Gewalt und Gegengewalt wird praktisch nicht mehr gemacht; Zeichen erfolgreicher Sozialisierung ist, die Inaussichtstellung und Ausübung von Gewalt per se abzulehnen. Ein Land, das seinen Bürgern persönliche Waffen zur Bekämpfung äusserer Feinde verteilt, ist zur Überzeugung gekommen, in Zivilkleidern sei es unmöglich, in eine Situation zu geraten, aus der man nur mit Gewalt heil herauskommt.

Zum anderen ist in Bezug auf Verbrecher die Unterstellung zum Standard geworden, sie delinquierten, wie Lawinen den Hang niedergehen: völlig ohne Rationalität und Kalkül. Dass Waffen in Privathaushalten «höchstens das subjektive Sicherheitsgefühl erhöhen», aber gegen Einbrecher «nichts bringen», gab vor einiger Zeit sogar ein unglücklicher Pro-Tell-Präsident zu Protokoll. Die gleiche bürgerliche Mehrheit, die gerade neue Kampfflugzeuge beschaffen will, glaubt ganz offensichtlich, für Verbrecher gebe es einfach nur Opfer – und nicht Opfer mit neuen, Opfer mit alten und Opfer mit gar keinen «Kampfpistolen».

Vor diesem Hintergrund ist klar, warum viel Bürgerliche zu Tragrechtsgegnern geworden sind. Handeln Verbrecher ohne jegliche Rücksicht auf ihr Wohlergehen, schreckt das Tragrecht wirklich nicht ab. Und ist Dissuasion und Gegengewalt nur gegen fremde Truppen legitim, kann der Wille zum Waffentragen tatsächlich nicht anderes bezeugen als den moralischen Defekt eines Rambos, Rechtsextremen oder Spinners.

Gewalt ist nicht einfach Gewalt. Wirtshausprügeleien sind das eine, barbarische, unprovozierte Attacken auf Zufallsopfer das andere. Was Letzteres betrifft, ist die Schweiz von heute eine völlig andere als jene von 1990. Dasselbe gilt für den Alltag der Einsatzkräfte. Vor dreissig Jahren brauchten Polizisten keine Spuckbrillen und Sanitäter keine Schutzwesten, jetzt schon. Auch für Minderheiten ist die neue Welt nur bedingt eine schöne. Antisemitismus und Homophobie sind zwar verpönter denn je – für Juden und Schwule wird der öffentliche Raum aber trotzdem immer gefährlicher. Die fast vollständige Sicherheit, bei der Verübung einer Gewaltstraftat nicht ernsthaft verletzt oder getötet zu werden, ist ein nicht zu vernachlässigender Anreiz für das handfeste Ausleben von Hass. Der Abschreckungseffekt gehört zu den Dingen, die man erst bemerkt, wenn sie nicht mehr vorhanden sind.

Menschliche Raubtiere

Insbesondere jene politischen und gesellschaftlichen Kreise, die hinter der Armee stehen, sollten sich wieder eingestehen, dass die Rezepte der Gesellschaft Schweiz ohne Armee nicht nur gegen Krieg, sondern auch gegen Verbrechen untauglich sind. So unbestritten das Ziel einer möglichst gewaltfreien Gesellschaft ist, so kontraproduktiv ist die Delegitimation von Abschreckung und Gegengewalt als Mittel dorthin. Die Rückkehr zu einer realistischeren, tragischeren Sicht auf die Kriminalität ist nötig, um unsere Gesellschaft wieder friedlicher zu machen. Sicherheitspolitisch gesehen sprechen einige gute Gründe für die Abschaffung des Bedürfnisnachweises, aber keiner dagegen. Mindestens so gewichtig ist meines Erachtens aber auch die ethische Komponente, die gegen den Beibehalt des Tragverbotes spricht.

Wir wissen, dass es menschliche Raubtiere gibt. Können wir die menschliche Beute zwingen, ihren Giftzahn zu Hause zu lassen, ohne Unrecht zu begehen?

Lukas Joos ist Philosoph und leitete 2019 die Abstimmungskampagne gegen die Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie in der Schweiz.

Link zum Artikel: https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2020-29/inland/instrument-der-zivilisation-die-weltwoche-ausgabe-29-2020.html

 

Foto: Jay Rembert / Unsplash